No One Was Driving The Car
(Melodic Hardcore)
Label: Epitaph
Format: (LP)
Release: 05.09.2025
Vorwort
Seit dem 2019er Release „PANORAMA“ sind bereits sechs Jahre vergangen. Jetzt kehren LA DISPUTE nun mit „Nobody Was Driving The Car“ zurück.
Diesmal ist alles anders: Das Album entstand vollständig in Eigenregie, selbst produziert, selbst vermarktet und episodenhaft über mehrere Monate veröffentlicht. Zum Release am 5. September waren alle außer zwei Lieder schon zu hören. Ich hatte das Privileg, dass ich das Album seit Juni hören konnte, wodurch diese Rezension über fast drei Monate hinweg reifen konnte. Eine Zeitspanne, die das Album auch verdient und braucht. Parallel zu den einzelnen Episoden entstanden Minidokumentationen von Fotografin „gingerdope“, die nicht nur zusätzliche Informationen preisgeben, sondern Türen in die Welt der Songs und der Band öffnen. Wer sich ernsthaft mit diesem Album auseinandersetzen möchte, kommt an diesen visuellen Begleitern nicht vorbei, sie sind essentiell für das vollständige Verständnis dessen, was LA DISPUTE hier geschaffen haben.
Während „Panorama“, gemixt von Will Yip, die Vocals gleichberechtigt mit den Instrumentals behandelte, stehen bei „Nobody Was Driving The Car“ Jordan Dreyers Lyrics klar im Vordergrund. Wem „PANORAMA“ zu soft war, wird hier direkt überrascht werden. Ich hatte einfach nicht erwartet, dass das neue Album so hart werden würde.
Das Album
„I Shaved My Head“ eröffnet das Album direkt mit dem Thema des Identitätsverlusts und die verzweifelte Suche nach Transformation durch Selbstzerstörung. Der Track nutzt das physische Rasieren des Kopfes als Metapher für den Wunsch nach radikaler Veränderung, während er gleichzeitig die schmerzhafte Erkenntnis verarbeitet, bereits seit Jahren ein Fremder für sich selbst und andere geworden zu sein.
Weiter geht es mit “Man with Heads And Ankles Bound“, das Lied handelt von einem nächtlichen Blick in fremde Fenster und die intimen, manchmal verstörenden Momente zwischen Menschen. LA DISPUTE zeigt in filmischer Sprache, wie Scham, Verlangen und Eifersucht uns alle verbinden, auch wenn wir manchmal glauben, allein damit zu sein. Musikalisch härter und schneller als der Opener. Härter als die letzten beiden Alben.
„Autofiction Detail“ wird wieder langsamer und erzählt von einer nächtlichen Stadtwanderung, bei der der Erzähler sich mit Saulus‘ Bekehrung auf dem Weg nach Damaskus vergleicht – nur dass er trotz seiner Visionen nicht blind wird und keine klare Erleuchtung findet. Das repetitive „beating heart“ symbolisiert am Ende, wie das Leben trotz aller urbanen Verzweiflung und Tragödie weitergeht.
„Environmental Catastrophe Film“ ist ein achtminütiges Meisterwerk über das unaufhaltsame Voranschreiten des Lebens. Das Lied besteht aus drei klar voneinander abgrenzbaren Kapiteln, sowohl lyrisch als auch musikalisch, wobei LA DISPUTE atmosphärisch und gefühlsintensiv wie nie zuvor klingen. Der Song startet mit Kindheitserinnerungen an einen vergifteten Bach, geht über zu existenziellen Fragen über Schuld und Tod, bis er in einer Meditation über Zeit und Vergänglichkeit endet. Dass Jordan Dreyer sagt, das sei der Song auf den er im ganzen Bandkatalog am stolzesten ist, versteht man nach dem ersten Hören. Zeilen wie „every moment passing is another one you’ll never get back“ sind eigentlich banale Aussagen, aber im Kontext des Liedes und im fortlaufenden Albumkontext kriegen sie ein immenses Gewicht. Die Metapher vom fließenden Wasser („there’s only one direction the water flows, it only goes forward“) zieht sich durch den ganzen Song und steht für die Unumkehrbarkeit des Lebens, dass wir alle vorwärts müssen, egal was passiert.
„Self-Portrait Backwards“ bremst das Album ab und führt die Band zu ihrer kontemplativen Seite zurück, die stark an „Objects in Space“ erinnert. Der Track funktioniert wie ein rückwärts gedachtes Selbstporträt, bei dem der Protagonist chronologisch durch sein Leben wandert und versucht nachzuvollziehen, wie er zu dem Menschen wurde, der er heute ist.
„The Field“ erzählt eine verstörende Jagdgeschichte aus der Perspektive eines jüngeren Bruders, der dem älteren durch den Wald folgt und dabei auf ein Feld mit Tierkadavern stößt. Der Song kulminiert in einem Moment der Lähmung: während der ältere Bruder weitergeht Richtung eines Militärkomplexes, bleibt der Erzähler wie hypnotisiert vor den Kadavern stehen und kann sich nicht losreißen, obwohl er weiß, dass er den Anschluss verliert. Das „and i did“ am Ende des Songs zeigt, wie manche Momente uns für immer in der Zeit einfrieren.
In “Fistfight at Moms Fiftieth / The Un-Sound” verdichtet die Band das Leitmotiv des Albums: Das Ticken der Zeit, die Stille dazwischen, das unaufhörliche Vorwärtsdrängen des Lebens. Szenen von Familienfeiern, Streit und Versöhnung werden wie durch eine generationsübergreifende Kamerafahrt zusammengeschnitten und zeigen, wie Freude und Schmerz untrennbar ineinander verwoben sind. Musikalisch trägt die monotone Wiederholung der Refrains, „it’s fine, it’s life“, diese Ambivalenz zwischen Trost und Resignation. So wird der Song zum Herzstück des Albums, weil er das große Thema auf den Punkt bringt: das fragile Gleichgewicht von Vergänglichkeit und Überleben, und das kleine Wunder, überhaupt da zu sein.
„Landlord Calls the Sheriff In“ thematisiert Amway, den Multi-Level-Marketing-Konzern, der LA DISPUTE Heimatstadt Grand Rapids in Michigan seit Jahrzehnten prägt. Die Band untersucht die Rekrutierungsstrategien und religiöse Legitimation, mit der das Unternehmen wirtschaftliche Not in profitable Verkaufsstrukturen kanalisiert. Das Ergebnis dokumentiert die Band in ihrem wohl gesellschaftskritischsten Song bisher.
„Steve“ ist eine Elegie über einen verstorbenen Freund, die das Songwriting der Band auf ein neues Level hebt. Das wörtliche Driften mit dem Auto auf vereisten Parkplätzen wird zum Symbol für Steves emotionales Abdriften von seinen Freunden über die Jahre. Während sie in der Jugend noch gemeinsam die Handbremse ziehen konnten, um das Auto zu kontrollieren, gibt es am Ende keine Bremse mehr, die Steve vor seinem finalen Schritt hätte bewahren können. Die Referenz auf T.U.L.I.P., das calvinistische Akronym, das im Moment von Steves Tod aufblitzt und Fragen nach Erwählung und Erlösung aufwirft, ist mir erst durch einen Reddit-Post aufgefallen und hat meine bereits hohe Meinung über den Song noch weiter verstärkt. All das geschieht vor dem Hintergrund von vermutlich dem härtesten La Dispute Song seit langem, musikalisch brutal und emotional aufwühlend. Der Song endet mit der schonungslosen Ehrlichkeit des Erzählers, der zugibt, dass er über Steves Suizid nicht überrascht war. Die kreisförmigen Bewegungen des Driftens werden zur Metapher für die endlose Wiederholung von Erinnerung und Schuld, beide Freunde bleiben gefangen in diesen Kreisen am Rand des Abgrunds.
„Top-Sellers Banquet“ entfaltet sich wie ein surrealer Film und kritisiert dabei Kapitalismus und spirituelle Leere durch eine apokalyptische Vision einer Firmengala. Der Song nutzt cinematische Erzähltechniken mit detaillierten Kamera-Anweisungen, um eine Szene zu schaffen, in der Servicekräfte und Künstler erlöst werden, während die privilegierten Gäste in Entsetzen zurückbleiben. Es ist das bisher ambitionierteste Stück in sachen Storytelling der Band.
„Saturation Diver“ ist ein düsterer Track über das Gefühl, im eigenen Leben gefangen zu sein wie ein Taucher, der sich in seinen Leinen verheddert hat. Der Song springt zwischen Erinnerungsfetzen und der Gegenwart hin und her, während der Protagonist sich fragt, ob sein Abdriften selbstverschuldet war oder durch äußere Umstände bedingt. Die Bilder von stummen Fernsehern mit Katastrophenfilmen und brennenden Feuern im Schnee verstärken das Gefühl der Isolation und des bevorstehenden Untergangs. Am Ende bleibt nur die bittere Erkenntnis, dass es kein rettendes Licht gibt, sondern nur die ewige Ruhe im Wasser.
“I Dreamt of a Room with All My Friends I Could Not Get In” dreht sich um eine toxische Beziehung und die verzweifelte Angst, ausgeschlossen zu werden. Verdichtet im Bild des verschlossenen Raums, in dem Freunde und Partnerin sind, während der Erzähler ausgeschlossen bleibt. Traum und Realität verschwimmen, die emotional flehenden Wiederholungen verstärken die Beklemmung. Klangbildlich der wohl emotionalste Song des Albums.
Der Titelsong “No One Was Driving The Car” bündelt die zentralen Motive des Albums in einem einzigen Bild. Ein Auto, das in die Dunkelheit fährt, ohne dass klar ist, wer es steuert, und wohin die Reise führt. Die Metapher der Straße und ihrer unausweichlichen Biegungen knüpft an die existenziellen Fragen der vorherigen Lieder nahtlos an. Der Titel des Liedes und des Albums ist ein direktzitat einer Aussage eines Polizisten nach einem tödlichen Unfall mit einem autonomen Tesla, die in den lokalen Nachrichten zitiert wurde. Dreyer übernahm die Formulierung, weil sie für ihn die Unsicherheit und Orientierungslosigkeit des Lebens perfekt verdichtete. Inmitten dieser Ungewissheit passiert im Song etwas Unerwartetes: Der Erzähler bemerkt, dass die Person neben ihm auf seiner Schulter eingeschlafen ist. Dieses intime Detail verschiebt die Perspektive: Während Dunkelheit und Zukunft unklar bleiben, entsteht ein Moment von Nähe und Frieden. Anstatt weiter krampfhaft nach Orientierung zu suchen, akzeptiert der Erzähler die gemeinsame Fahrt ins Ungewisse. So wird „No One Was Driving the Car“ zu einem Schlusspunkt, der nicht mit einer Auflösung endet.
„End Times Sermon“ schließt das Album mit einer apokalyptischen Vision ab, in der die Natur sich gegen ihre Zerstörer wendet. Feuer verbrennt sich selbst, Wasser verdurstet, die Erde begräbt sich in sich selbst. Doch LA DISPUTE beendet das Album nicht in purer Verzweiflung: „succumb to heat / succumb to power / born to suffer / plant a garden / flowers grow“. Nach all der Dunkelheit bleibt ein letzter Hoffnungsschimmer, dass wir trotz allem weiter pflanzen und weiter wachsen können. Das ambienthafte Waldgeräusch am Ende lässt das Album los.
Fazit
Im fünften Teil der Begleitdokumentation sagt Drummer Brad, dass er das beste Album bisher produzieren möchte möchte – meiner Meinung nach haben sie genau das geschafft.
LA DISPUTE haben mit „Nobody Was Driving The Car“ ein Werk geschaffen, das so ehrlich, nahe, umfangreich, aggressiv und künstlerisch ist, wie es kein Album seit langem geschafft hat. Es wirkt nicht nur wie ein spiritueller Nachfolger von „Wildlife“, sondern überzeugt in allen Facetten, sei es musikalisch, lyrisch, thematisch, künstlerisch. Es fühlt sich als Gesamtkonstrukt genau richtig in unsere momentane Welt platziert.
Ab einem gewissen Punkt hat man sich diese existenziellen Fragen die im Album behandelt und verarbeitet werden vielleicht schon einmal im Leben gestellt und dass die Band es schafft, diese universellen Themen lyrisch und musikalisch so meisterhaft zu verpacken, ist einfach sensationell. Die episodische Veröffentlichung war dabei auch genial: Jedes Kapitel bekam die Zeit und Aufmerksamkeit, die es verdiente, begleitet von essentiellen Minidokumentationen, die das Album zu einem multimedialen Gesamtkunstwerk erheben.
Seit TOUCHE AMOREs „Stage Four“ hat kein Album eine vergleichbare emotionale Tiefe erreicht. „Nobody Was Driving The Car“ verändert meine Sicht auf alles andere und legt die Messlatte nicht nur musikalisch, sondern auch konzeptuell viel höher – von den visuellen Begleitern über die Musikvideos bis hin zur gesamten ästhetischen Präsentation. Es ist eines jener seltenen Alben, die einen hinterfragen lassen, was Musik überhaupt ist und sein kann.
„Nobody Was Driving The Car“ ist kein einfaches Album, aber wer sich die Zeit nimmt, in dieses vollständig durchdachte Meisterwerk einzutauchen, wird mit einer der bemerkenswertesten und prägendsten musikalischen Erfahrungen belohnt.
Tracklist „No One Was Driving The Car“:
1. I Shaved My Head
2. Man With Head And Ankles Bound
3. Autofiction Detail
4. Environmental Catastrophe Film
5. Self-Portrait Backwards
6. The Field
7. Sibling Fistfight At Mom’s Fiftieth / The Un-sound
8. Landlord Calls The Sherrif In
9. Steve
10. Top-Sellers Banquet
11. Saturation Diver
12. I Dreamt Of A Room With All Of My Friends I Could Not Get In
13. No One Was Driving The Car
14. End Times Sermon
Gesamtspielzeit: 1h 5min
Band-Links: