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Das Warten ist endlich vorbei – der Prog-Meister Arjen Anthony Lucassen hat sich wieder an sein Meisterstück namens AYREON gewagt. Sein Solo-Album „Lost In The New Real“ (2011), das neue STAR ONE Werk „Victims Of The Modern Age“ (2010) und auch das GUILT MACHINE -Projekt (2009) waren absolut starke Veröffentlichungen, doch das letzte große AYREON Meisterwerk „01011001“ (oder auch „Y“) liegt schon über fünf Jahre zurück.
Das neue Doppelalbum hört auf den mysteriösen und ebenso genialen Namen „The Theory Of Everything“ und kommt mit einem verhältnismäßig schmalen LineUp daher. Namen wie Jordan Rudess (DREAM THEATER), Steve Hackett (GENESIS), Troy Donockle (NIGHTWISH) oder Keith Emerson (EMERSON, LAKE & PALMER) lassen trotzdem schon Großartiges erahnen. Bei den Sängern gab Arjen dieses Mal teilweise weniger bekannten Talenten den Vorzug, die aber allesamt eine wirklich gute Leistung abgeben und gewisse Rollen in der Geschichte zugeteilt bekamen. Nachdem Arjen zugab, dass das AYREON Universum nach „The Human Equation“ und „01011001“ zu kompliziert wurde, verpasste er diesem einfach ein Reset und startete nun eine neue Geschichte, die in einer möglichen Gegenwart spielt und weniger opulent, aber ebenso tiefgründig ausgefallen ist.
So geht es um ein Wunderkind, dargestellt von Tommy Karevik (KAMELOT), der aber eine gewisse Konzentrationsschwäche aufweist. Die Story beginnt filmreif mit dem „Prologue – The Blackboard“, welches eigentlich bereits das Ende der Geschichte darstellt. Eine Blende zurück und es wird in die Jugend- bzw. Schulzeit von ihm geschwenkt. Neu im AYREON Universum ist auch, dass Arjen „nur“ vier Songs zur Verfügung stellt, die aber alle über 20 Minuten kommen und in ca. zehn Parts aufgeteilt sind. So fallen diese eher kurz aus und können von 30 Sekunden bis hin zu vier Minuten dauern. Musikalisch gesehen beginnt man spannend und atmosphärisch – sofort ist Lucassens Handschrift zu erkennen und man wird schnell in die AYREON-Welt hineingezogen, die man erst nach gut 90 Minuten wieder zu verlassen vermag. Wunderschöne Piano-Klänge, fette Synthesizer, Hammond Orgeln, Akustikgitarren, spaceige Parts, fette Riffs, pumpende Drums, etwas Folklore und tausend Elemente mehr, die man von AYREON in ähnlichen Formen kennt, sind zu finden. Doch zurück zur Geschichte. Der Vater, gemimt vom bei uns eher unbekannten Michael Mills (TOEHIDER), ist ein Wissenschaftler, der das Potential hinter seinem Sohn nicht sieht und sich auf seine Arbeit eingeschworen hat, während die besorgte Mutter – Cristina Scabbia (LACUNA COIL) natürlich hinter ihrem Sohn steht, ebenso wie der perfekt gewählte Lehrer Janne „JB“ Christoffersson(GRAND MAGUS), der auch als Mentor und Freund dient und die Freundin und später auch Geliebte(Sara Squadrani von ACNIENT BARDS). Ebenso genial in seiner Rolle als Widersacher zeigt sich Marco Hietala (NIGHTWISH, TAROT). Der letzte im Reigen ist Rock-Legende John Wetton (ASIA) als Psychiater. Man sieht, es braucht nicht immer einen Bruce Dickinson, Damian Wilson, Jorn Lande oder Russel Allen um ein unvergessliches Hörerlebnis zu garantieren.
Nun, einen der vier Songs zu bevorzugen fällt nicht nur schwer, sondern stellt sich doch als Ding der Unmöglichkeit heraus. Alle Songs und deren Parts haben ihre Daseinsberechtigung und ihre ganz besonderen Momente, somit kann man vielleicht einzelne Parts erwähnen, doch auch meine Favoriten schwanken von Mal zu Mal – aber versuchen wir es. Während die ersten Teile von „Phase I: Singularity“ als Einführung zu sehen sind und viele verschiedene Stimmungen erzeugen, kommt bei „The Teacher´s Discovery“ zum ersten Mal Gänsehaut auf. Die Dynamik zwischen Tomy, JB und Marco is einmalig und setzt sich bald im Ohr fest. Auch musikalisch hat man hier mit orientalischem Einschlag und genialem Drumming von Ed Warby (GOREFEST) einiges zu bieten. Man spürt die Rivalität, den Neid und auch die Bewunderung förmlich knistern. „Love & Envy“ ist mit seiner eisigen Atmosphäre auch ein wahres Erlebnis, wohingegen das hektische „The Gift“ direkt aufwühlend wirkt. „The Theory Of Everything“ ist wohl das am schwersten zugängliche Werk von AYREON, was nicht unbedingt an der Progressivität selbst liegt, sondern vielmehr daran, dass sich kaum eine Strophe wiederholt und auch selten musikalische Elemente mehrmals aufgegriffen werden, wenn doch, dann aber perfekt in Szene gesetzt, wie bei den drei Teilen des Titeltracks.
Mittlerweile befinden wir uns in „Phase II: Symmetry“. John Wetton stellt die Diagnose und bietet eine Droge, die helfen sollte. „Diagnosis“ zeigt John in Bestform und zum zweiten Mal kommt Gänsehaut auf. Generell holt Arjen wie immer alles aus den Sängern heraus und zeigt sie auch von anderen Seiten, als man sie sonst kennt. Durch die Gesangsdynamik kommt auch immer wieder Opern- und Musicalatmosphäre auf. Die Droge selbst lehnt die Mutter natürlich ab, der Vater jedoch mischt diese unter das Essen des Wunderkinds und setzt somit sein ganzes Potential frei. Mehr möchte ich zu der mitreißenden Story gar nicht erzählen, außer, dass sie mich an Filme wie „Ohne Limit“, Rain Man“ oder „A Beautiful Mind“ erinnert.
Zwischendurch gibt es auch immer wieder interessante Stücke, die auch ohne Gesang die Handlung sehr schön vorantreiben. Wenn man in diese eintaucht, dann merkt man auch warum. Arjen sollte schleunigst Drehbuchautor werden und das stagnierende Hollywood aufwecken. Richtig intensiv wird es in der zweiten Hälfte mit „Transformation“, actionreich mit „Collision“ und wirklich herzzerreißend mit „Side Effects“ – nochmal Gänsehaut! Bevor es nun aber zu ausschweifend wird, komme ich zum Ende und weise noch auf das emotionale Feuerwerk vom Finale hin. „The Parting“, traurig, wie der Titel schon vermuten lässt und „The Breakthrough“ sind zum Ende nochmal eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle, während der letzte Song „The Blackboard – Reprise“ den Hörer mit offenem Mund dastehen lässt.
Arjen Lucassen hat es erneut geschafft, ein Meisterwerk zu erschaffen, das seinesgleichen sucht. Vergleiche mit den Vorgängern sind aufgrund des musikalischen und lyrischen Konzepts eigentlich nicht möglich bzw. wären fast blasphemisch. „The Theory Of Everything“ ist ein Meisterstück, dass zwar ohne seine Handlung auch funktionieren könnte, aber der Hörer würde so einiges verpassen, den die Symbiose aus Text und Musik ist unvergleichlich und möchte ich nicht mehr missen. Er spielt nicht nur mit der Psyche seines Hauptcharakters, sondern auch mühelos mit den Gefühlen des Hörers. Danke Arjen!
Tracklist „The Theory Of Everything“:
CD1
Phase I: Singularity (23:29)
1 Prologue: The Blackboard
2 The Theory Of Everything – Part 1
3 Patterns
4 The Prodigy’s World
5 The Teacher’s Discovery
6 Love and Envy
7 Progressive Waves
8 The Gift
9 The Eleventh Dimension
10 Inertia
11 The Theory Of Everything – Part 2
Phase II: Symmetry (21:31)
12 The Consultation
13 Diagnosis
14 The Argument 1
15 The Rival’s Dilemma
16 Surface Tension
17A Reason To Live
18 Potential
19 Quantum Chaos
20 Dark Medicine
21 Alive!
22 The Prediction
CD2
Phase III: Entanglement (22:34)
1 Fluctuations
2 Transformation
3 Collision
4 Side Effects
5 Frequency Modulation
6 Magnetism
7 Quid Pro Quo
8 String Theory
9 Fortune?
Phase IV: Unification (22:20)
10 Mirror Of Dreams
11 The Lighthouse
12 The Argument 2
13 The Parting
14 The Visitation
15 The Breakthrough
16 The Note
17 The Uncertainty Principle
18 Dark Energy
19 The Theory Of Everything Part – 3
20 The Blackboard (Reprise)
Gesamtspielzeit: 44:47 + 44:46