EVANESCENCE - Evanescence
EVANESCENCE
Evanescence
(Gothic Metal)

 


Label: EMI
Format: (LP)

Release: 2011


Gleich vorneweg: EVANESCENCE können gar nicht alles richtig machen. Sie sind in der ausgesprochen schwierigen Situation, Fans oder zumindest Sympathisanten in allen möglichen Kreisen der Popkultur zu haben, die unterschiedlicher nicht sein könnten (mit ihren Feinden verhält es sich natürlich ähnlich) und dementsprechend differierende Erwartungshaltungen jedem neuen Output gegenüber hegen. Und man tut ihnen vielleicht auch unrecht, wenn man sie unter denselben Gesichtspunkten zu bewerten versucht wie die ungeheure Menge an Female-Fronted-Bands, die seit Mitte des vorigen Jahrzehnts ihr Unwesen treiben – unabhängig davon, was das in vielerlei Hinsicht unerreichte und immer noch unerreichbare Werk Fallen aus dem Jahre 2003 damals auszulösen vermochte, hat sich in dieser Musikrichtung und allen dazugehörigen Zielgruppen seither so immens viel getan, dass es möglicherweise an mancher Stelle gar hartherzig (um nicht zu sagen: ignorant) ist, wenn man mehr oder weniger direkte Vergleiche anstellt. Aber man kommt nun mal nicht drum herum, und unter uns: Wenn eine Band ein neues Album aus heiterem Himmel und ohne deutliche Gründe mit dem eigenen Bandnamen betitelt, ist sie doch auch ein bisschen selbst daran schuld, wenn dann fleißig in ihrer eigenen Vergangenheit gekramt wird.

Und wie bereits angesprochen, ist diese Vergangenheit alles andere als ein leichtes Erbe. Bereits auf „The Open Door“, dem 2006er-Nachfolger von „Fallen“, war zunächst unklar, welchen Weg die Band nun einschlagen würde. Dass mit einer direkten Kopie des Erfolgsalbums nicht derselbe Erfolg erneut erzielt werden konnte, lag auf der Hand – Pionierarbeit überrascht und begeistert nunmal nur dann, wenn sie neu ist. Auch war klar, dass es ein Schnitt ins eigene Fleisch wäre, würde man den Stil allzu sehr verändern. Im Endeffekt entschied man sich für eine etwas eigenwillige, aber fragile Zwischenvariante, die alle Grundfragen beantworten konnte, aber eine gewisse Unsicherheit und Fremdheit zurückließ. „The Open Door“ war ein ausgesprochen schwieriges Album. Das wohl charakteristischste Merkmal und Aushängeschild der Band – Amy Lees einzigartige Stimme – wurde voll ausgespielt, wodurch bereits ein großer Teil der bereits vorhandenen Anhängerschaft wiedergewonnen war. Allerdings wagte man sich musikalisch in teilweise sehr ungewöhnliche Gefilde vor, und das Keyboard bekam so manche ganz neue Bedeutung – das Ding war plötzlich ein echter Synthie mit dementsprechenden Möglichkeiten und konnte weitaus mehr als bloß das obligatorische Streichorchester ersetzen. Woran diese subtile, aber eigenwillige musikalische und instrumentale Neuorientierung lag, dürfte zumindest zu Teilen geklärt sein: Leadgitarrist und Mitkomponist Ben Moody, neben Lee zweite Gründungshälfte der Band, war zuvor ausgestiegen, und auch wenn uns eine mediale Schlammschlacht gerade noch erspart geblieben war, so scheint doch nicht alles so glatt und reibungsfrei abgelaufen zu sein, wie es Management und Sprecher zuweilen treuherzig behaupteten – nicht zuletzt Moodys 2009 gegründetes Projekt WE ARE THE FALLEN, in das neben ihm noch Ex-Drummer und Ex-Rhythmusgitarrist von EVANESCENCE involviert sind, war alleine schon namentlich ein recht eindeutiges Statement.

Und Ben Moody ist wie erwartet nicht zurückgekehrt, EVANESCENCE sind nach wie vor die Amy-Lee-Band. Es will hier niemandem etwas unterstellt werden, aber beim Hören des neuen Albums drängt sich mitunter der Ansatz auf, dass man doch versuchte, wieder in Richtung „Fallen“ zu gehen, dabei aber wohl wissend, dass die Gefahr, sich selbst zu karikieren, ausgesprochen hoch ist. Die ominösen Experimente des Vorgängers sind passé, man besinnt sich auf seine rockig-orchestralen Wurzeln – bleibt dabei aber, und das ist leider sehr schade, äußerst vorsichtig. Zwar winkt uns Amy (die nach erfolgreicher Eheschließung nun eigentlich Frau Hartzler heißt, aber wir wollen ja nicht persönlich werden) gleich im ersten Track, dem vorab schon ausgekoppelten „What You Want“, mit dem Zaunpfahl – „Hello, hello, remember me?“, und auch das dazugehörige Video geizt nicht mit optischen Anlehnungen an gleich mehrere unvergessliche Hits der ersten Stunde(n). Angesichts des enormen Hitpotentials der neuen Single könnte man vielleicht eine Diskussion über Verkommerzialisierung vom Stapel brechen, irgendwo wirkt es aber auch einfach nur niedlich trotzig, wie Amy (und natürlich ihre Band, nicht zu vergessen..!) auf möglichst vielen medialen Ebenen gleichzeitig nun wieder auf sich aufmerksam zu machen versuchen. Und als Haupterwerbsband darf man es ihnen wohl auch nicht verübeln, wenn sie auf Nummer sicher gehen und sich mit zumindest diesem einen Song ihren Lebensunterhalt zu sichern versuchen. Der Rest des Albums weicht nämlich durchaus von diesem angeblich so repräsentativen Song ab – ohne dabei aber, wie bereits erwähnt, größere Risiken einzugehen.

Man muss dem Album und seinen Machern zu Gute halten, dass man sich ehrlich bemüht zu haben scheint, die Songs möglichst nicht alle gleich klingen zu lassen; eine Eigenschaft, die EVANSCENCE trotz ihrer melodisch oftmals fast konventionellen Eingängigkeit immer schon an sich hatten, und die sie auch auf dem neuen Album zum Glück zur Gänze beibehalten haben. Dennoch haben sie ihren eigenen Stil mit Wiedererkennungswert, und dieser wird erneut voll ausgeschöpft. Es ist theoretisch alles vorhanden, was man mit dem Bandnamen verbindet: Es gibt schöne Melodien, Rockpotential, die charakteristischen Klavier-Einwürfe, gelungene und vor allem in einem gesunden Maß eingesetzte Orchesterarrangements und eine charismatische unverwechselbare Stimme.

Man kann sich im Grunde wirklich nicht über das Werk beklagen. Dennoch, man verzeihe mir etwaige übersteigerte Subjektivität und triviale Nostalgie, aber dem Album fehlt es ganz einfach Emotion. Woran das liegt, kann mehrere Ursachen haben. Die am ehesten einleuchtende Erklärung dafür ist vielleicht die allgemeine Grundtendenz im Songwriting, sich auch mal mehr in Dur-Tonleitern zu bewegen, was für die Band selbst vielleicht die einzige wirkliche Neuerung auf dem Album ist, wenngleich dieselbe auch in Form von Schemata vollzogen wird, die man eigentlich schon von anderen (älteren) Bands kennt. Dieser Farbenwechsel steht EVANESCENCE prinzipiell eigentlich gar nicht schlecht, und Amy scheint auch ganz gut mit dieser kompositorischen Horizonterweiterung umgehen zu können. Aber genau deswegen entsteht leider genannter Konflikt mit der emotionell-künstlerischen Glaubwürdigkeit des Albums.

„Fallen“ lebte von einer immanenten Verzweiflung, die die kompositorische Freiheit zwar einschränkte, aber durch diese eine kompromisslose Stringenz und eine auch textlich erschreckende, nahezu exhibitionistische Ehrlichkeit entwickeln konnte, die wesentlich zur gnadenlos bedrängenden Atmosphäre des Albums beitrug. „The Open Door“ war psychisch labil und schwerer zugänglich, was die Hintergründe erklären konnten, dabei aber mindestens genau so ehrlich. „Evanescence“ ist auch ehrlich, aber als Zyniker könnte man zu dem Schluss kommen, dass es der Band zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Albums einfach zu gut ging, als dass sie mit einem neuen Werk aus ihrer Welt wirklich etwas bewegen hätten können. Sie haben ihren Job gemacht, und sie machen ihn immer noch gut. Dennoch ist durch das Fehlen der echten (meinetwegen auch nur echt wirkenden) Verzweiflung und einer schlüssigen Emotionsstory dieser Hauch von Routine eingekehrt, der einen schalen Beigeschmack hinterlässt, der nicht leicht wieder wegzubekommen sein wird. Dieses Album ist hübsch und verdient seine Daseinsberechtigung, aber wenn das nächste Album ebenso brav ausfällt, ist die Grenze zur Langeweile und Unglaubwürdigkeit überschritten. Es bleibt spannend.

 


Tracklist „Evanescence“:
1. What You Want
2. Made Of Stone
3. The Change
4. My Heart Is Broken
5. The Other Side
6. Erase This
7. Lost In Paradise
8. Sick
9. End Of The Dream
10. Oceans
11. Never Go Back
12. Swimming Home
Gesamtspielzeit: 47:19

 


Band-Links:

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EVANESCENCE – Evanescence
6.5
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